039_2022 Tati Tata in Münchens Arztpraxen
- GM
- 1. Sept. 2022
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 23. Okt. 2022
Über zehn Jahre ist es her.
2011.
April.
Aber vorher gehen wir ins Kino der 50iger Jahre. Es läuft: 'Herrliche Zeiten' von Tati.
Ein kaltschnäuziger, karger, überdimensionierter Bürokomplex aus Glas, Metall, Beton. Design-Bunker. Endlose Fluchten. Weit und breit kein Leben. Kein Mux. Nichts organisches, an dem der Schall sich fangen könnte. Der Boden geleckt wie die M...
Lassen wir das.
...
*Popcorn?* bedeutet meine Geste.
Finger kruschteln und rühren in die Stille des dunklen Saales. Hüsteln.
.."Danke", flüstert er zurück, steckt sich die Hand in den Mund und beginnt zu mahlen.
...
Tati betritt die Szene. Tati muss man gesehen haben. Muss. Wenn man verliebt ist in den spröden, den ironischen, den liebevollen, überspitzten, sarkastischen Humor des Lebens.
Kein Drehbuch ist je erfunden worden. Keines. Sie werden geschrieben von Menschen, die noch in der Lage sind, am Rad der Zeit zu drehen. Die im Stande sind, ihre Uhren langsamer laufen zu lassen. Von Menschen, die Ohren genug haben, die feinen Töne zwischen all dem Lärm unserer Zeit zu vernehmen. Die Augen genug haben, das Daumenkino unserer rasenden Welt Blatt für Blatt zu wenden.
Tati, der lange Schlaks mit Hut, Regenschirm, 3/4 Parker, viel zu kurzen Hochwasserhosen und Pfeife im Mundwinkel wird von einem mindergroßen, dürren, O-beinigen Pförtner abgeholt. Geschätzte drei Bälle könnte ein Profi mit einem Satz hindurch schießen.
...
Lege den Kopf an die Lehne, neige den Kopf zu meinem Sitznachbarn, das Flimmern der Leinwand spielt mit seinem feinen Profil. Er versucht mit der Zunge die klebenden Reste des Popcorns zwischen seinen Zähnen zu beseitigen.
*Cola?* bedeute ich ihm und halte ihm den Strohhalm unter die Nase.
Kopfschütteln.
...
Der hektische, uniformierte Portier auf der Leinwand platziert derweil einen unbeholfenen Tati in der Rauchernische eines unendlich langen, unendlich langweiligen Ganges. Man riecht schier den kalten, beißenden Rauch, der aus dem Rauchermülleimer empor steigt. Die Position des Stuhles erlaubt Tati kein Blick auf den Flur. Das hutzlige Männchen zündet sofort eine Zigarette, nimmt zwei, drei tiefe Züge. Schritte auf dem harten Boden. Aufgescheucht legt er seine Zigarette auf den Rand des Eimers. Ein Blick um die Ecke. Noch niemand zu sehen. Er bedeutet Tati, der aufspringen will, sitzen zu bleiben, greift die Zigarette, zieht. Er kennt das ewig gleiche Lied, die Melodie der Schritte geflissentlich eilender Bürokraten. Er kennt die Anzahl, die Lautstärke, den Schlussakkord. Immer wieder ein prüfender Blick um die Ecke. Dann ist es soweit.
Rasch noch ein tiefer Zug, Zigarette ausgedrückt, winkt er Tati, aufzustehen. Kurzes, förmliches Palaver. Auf Aufforderung des Aktenträgers wechselt Tati in den Glascube gegenüber.
Wartebereich.
Alle vier Meter ein eckiger Designstuhl. Kunstleder. Metallfüße. Kein Mensch im Raum. Eine riesige Glasfronten gibt den Blick frei auf das Treiben dort draußen auf der Straße.
...
Stecke mir den letzten, schwitzenden Eiskonfekt in den Mund.
*Beste Corornabedingungen: ausreichend Abstand, porentiefe, sterile Reinheit. Vereinzelung des Menschen*, schießt es mir durch den Kopf.
...
Tati wartet.
... Die kühle, fettige Schokolade auf meiner Zunge verlässt ihre Form.
...
Tati wartet.
Und wartet.
Lässt seinen Blick im Raum wandern. Nichts, das dem Geist Kurzweil bieten will.
Er beginnt, sich zu langweilen. Beginnt, sich mit den wenigen Dingen zu beschäftigen, die der schallgedämpfte Würfel bietet.
...
*Seine Zeit bremst*
Ich rutsche tiefer in den roten Kinosessel. So ganz für mich. Allein mit diesem langen, stummen, menschenfreundlichen Schlacks. So nah ist er mir auf ein Mal. So vertraut. Mit einem mal fühle ich wieder, wie das war, im Herbst 2020, im Patientengarten der Biedersteiner Straße. Ohne Zerstreuung. Ohne Kontakt. Körperlockdown im Lockdown. Volllockdown. Damals, als meine Zeit eine Vollbremsung hinlegte, still stand mit einem Mal. Damals, als mir der Zoster die Zeit zurück brachte. Das Gebrüll des Lebens nachließ. Verstummte. Die feinen Töne, die feinen Nuancen wieder lebendig wurden. *Was für ein beschissenes Geschenk an meinen Körper, was für ein wunderbares Geschenk für meine Seele.*
Der Film flimmert bläulich kühl über mein Lächeln. Ungesehen von der Welt um mich herum. Ein Lächeln für mich, für den langen Schlacks, der dort auf der Leinwand, der soeben ...
...
... soeben die schwarze, quadratische Lehne einer der Stühle zwischen seinen Fingern zusammendrückt. Formschaum schon damals. Die Lehne füllt sich - ganz langsam - wieder mit Luft. Der Knick im Kunstleder wird kleiner und kleiner. Du hörst nichts, als ein Luft saugendes Geräusch. Der letzte Knick, ein 'Plopp!' und alles hat wieder seine Ordnung. Das Polster steht - künstlich wie zuvor.
Tati wandert erneut im Raum. Um den niedrigen Glastisch in dessen Mitte. Sein Blick bleibt für einen Moment an den darauf säuberlich drapierten Zeitungen hängen. Er stützt sich auf seinen Schirm. Rutscht ab, rutscht aus auf dem spiegelglatten Boden. Fängt sich. Ein verstohlener Blick, den Schirm hinter dem Rücken gehalten, wippt er an die Scheibe seines bürokratischen Käfigs.
Beobachtet das Leben. Dort draußen.
Wandert wieder.
Setzt sich.
Steht auf.
Der verlassene Stuhl saugt die Luft aus der Stille.
'Plopp!'
Wandert.
Setzt sich.
*Ein stummer Stuhl*, denkst du noch. Denkst du. Dann presst der Stuhl aus jeder Pore der Sitzfläche einen stöhnenden ...
'Furz!'
*So etwas gibt es doch nur im Film?!*
2011, in irgendeiner empfohlenen Orthopädenpraxis in München. "Sie dürfen sich ins Wartezimmer setzen", deutet mir die nette Dame vom Empfang.
Ich humple in den Raum. Grabesstille empfängt mich. Voll. Zwei Stühle sind noch frei.
Verdächtig spartanische Kunstlederstühle.
Setze mich. Auf den einen.
Minuten,
Viertelstunden,
Halbe Stunden vergehen.
Dann betritt der nächste Patient den Raum. Lässt sich nieder. Auf dem einen. Dem einen, noch freien Stuhl.
Dem Stuhl, der,
da sein Gesäß das Kunstleder in die Knie zwingt einen derart lauten
'Furz!'
in die Runde schickt, dass ich mich beim Versuch, das Lachen zurück zu halten hoffnungslos verschlucke. Peinlich betretenes Schweigen um mich friert die Szene ein. Gelebte Ignoranz. Ganz im Sinne des Leidtragenden.
Dazwischen? Zwei hochrote Köpfe. Seiner. Und meiner. Tränen strömen über mein Gesicht.
Ich ersticke, derweil die anonyme Gemeinschaft den Prozess des Wartens stillschweigend fortsetzt. Mit der Zeit beruhigt sich mein Husten. Fast tut er mir leid. Er. Dort. Auf dem Stuhl. Denn jede minimalste Bewegung droht ihm das Sitzmöbel mit weiteren Flatulenzen.
"Frau Buxdehude, bitte?!" Eine ältere Dame neben ihm erhebt sich, entschwindet durch die Türe. Der Sprechstundenhilfe nach. *Ob er sich wohl umsetzt?* Nein. Vermutlich hat er das Vertrauen in die Reihe verloren. "Herr OhneTermin bitte?!", wenige Sekunden später.
Herr OhneTermin war offensichtlich der korpulente Herr neben mir. Ich bin gespannt, was jetzt passiert. Die vom Stuhl gequälte Kreatur mir gegenüber wittert ihre Chance, Gesicht wahrend die Stuhlhölle zu verlassen. Erhebt sich. Mutig, schnell, geräuschvoll. Um auf dem Stuhl neben mir Platz zu nehmen.
Ja, was soll ich sagen: Wenn das Leben die Kinoleinwand vor dir ausrollt, es dunkel wird, ...
dann betritt - ganz bald - ein neuer Protagonist die Szene.
SSSSSSSSsss, der Türsummer. Das Klacken des Schnappers der sich öffnenden Praxistüre. Gemurmel.
Grabesstille unter den Wartenden im Raum.
Schritte. "Tag!" "Tag", murmelt es von irgendwo zurück.
Zwei Stühle sind wieder frei. Uns gegenüber. Es ist wie die Reise nach Jerusalem. *Popcorn, Nachbar?* denk ich bei mir. Unsere Blicke hätten sich getroffen, wäre da nicht die Peinlichkeit der Fremde und der einer Arztpraxis wenig angemessenen Äußerungen dieses Sitzmöbels gewesen, mit dem keiner hier so recht umzugehen wusste.
Die Luft steht vor Spannung. Alles starrt gebannt in Blitz, Illu und Ärzteblatt. Sieben ums Eck lauernde Augenpaare zwingen den Neuankömmling auf den nächstliegenden Platz.
Das Sitzmöbel mit dem fäkalen Tick.
'FurZzzzzzz!'
Ich beiße mir auf die Lippen. Blicke.
Ein hochroter Kopf.
Zwei, drei ungemütliche Sesselrutscher später wird aus dem bisher doch eher agil wirkenden Mitdreißiger eine Salzsäule. Bis ...
"Herr Loth bitte."
Loth ward rasch erlöst, erhebt sich und verlässt erleichtert das Zimmer des Grauens.
Das Möbel? Es atmet auf. Still und leise.
*Die fiese, hinterfotzige Arztbazille.*
... Zeit zieht durch den Raum wie ein Kaugummi.
Totgeschwiegene, weggeatmete Zeit.
...
Die Praxisglocke. Der Summer. Der Türschnapper. Die Tür fällt ins Schloss. Gemurmel. 'TockTockTock...', Schritte.
Ein adrettes Kostümchen auf Pfennigabsätzen betritt den Raum. Grüßt nicht. Grüßt keiner zurück. Ich rutschte tiefer in meinen Sessel, ziehe meine Oberlippe zwischen die Zähne und halte die Luft an: Drei Stühle zur Wahl. Musik läuft. Film ab.
*Heiß, heißer.... gaaaanz heiß!"
Musik aus!
'Fuuuurrrzzzzzzzz!!!!!!!'
Ich kann nicht mehr. Überdruck im Kopf. Tränen. Durchgebissene Zunge. Zuckungen im Brustkorb. Vergrabe mein Gesicht in meinen Haaren.
Der Absatz aber spingt auf dem Absatz wieder auf, wirft dem Stuhl einen bösen Blick zu, setzt sich einen weiter und krallt sich mit ihren Strass besetzten Nägeln am Handtäschchen fest.
Die Bazille?
Schweigt.
Steht da in unseren Reihen, als wäre sie eine unter vielen. Als wäre sie eine von uns.
*Bei der nächsten* schwör ich mir, *bei der nächsten armen Seele sag ich was. Wenn es sonst schon keiner tut.*
Und da kommt sie auch schon. Eine warmherzige, ältere Dame steuert - schnurstracks - auf das Subjekt zu. Einen Moment wartet ich, ob der Nagellack sich vom Täschchen löst, die Dame zu warnen, aber, ... nichts.
"Ähhhhmmmm, warten Sie." Ich springe auf, so gut das eben geht mit einem frisch verabschiedeten Kreuzband. Humple der Neuen entgegen, blockiere mit einem Arm den Weg in ihre Demütigung und bedeute ihr mit dem anderen auf meinen Sitzplatz weisend:
"Setzen Sie sich da hin."
Sie, erst sichtlich irritiert, dann leicht erbost über diese egozentrische "Jugend" schaut mich unverständig an, dann in die Runde. Sie sucht nach Bestätigung ihrer Wahrnehmung. Nach Verbündeten. Und findet? Blitz, Ilu und Ärzteblatt.
In Ermangelung der ersehnten Unterstützung blickt sie mich noch einmal böse an, setzt sich dann aber auf meinen Platz. Sympathisch bin ich ihr nicht, soviel steht fest.
Jetzt ist mal gut! Ich hab die Schnauze voll von anonym, peinlich betreten, bloß nicht reagieren und schon gar nicht lachen.
Ich erhebe den Zeigefinger mit dem getragenen Worte: "WEIL.....!!!!" .....
und lasse mich so herzhaft es mir möglich ist auf der Bazille nieder.
'PPPFFFRRRUUURZZZZZZ!!!!'
Erhebe mich ein wenig. Lasse mich fallen.
"Fuuurzzzz!"
Erheben. Fallen lassen. Erheben. Fallen lassen.
Bis dem Kunstleder die Luft ausgeht. Je mehr dem Sitzmöbel die Luft ausgeht, desto mehr entgleitet selbst dem letzten Puristen im Raum ein Lächeln.
Endlich! Die Bazille hatte ihren Schrecken verloren. Sich selbst nicht so ernst nehmen ist und bleibt eben der beste Antagonist zu Peinlichkeiten.
Was soll ich sagen. Ich saß nicht still. Ich saß auch nicht lang dort.
Zumindest auf dem Stuhl nicht.
Wir machten uns einen unausgesprochenen Spaß daraus, Hereinkommende je nach Gefühl zu klassifizieren
- hat genug Humor
- versinkt im Boden, findet es dann aber lustig
und
- humorfrei Zone, muss gerettet werden.
Wir ließen noch vier weitere ins Leder laufen. Kurzweil einer eingeschworenen, anonymen Wartezimmergemeinschaft.
Das war Zufall? Zehn Jahre später.
Es gibt sie noch. Die Designklassiker. Oder auch: Tati Tata, da sam ma wida!
01.09.2022
München. Stadtmitte. Frau Doktor PositivFreak.
"Gehen Sie schon mal ins Labor." Blutabnahme. "Setzen Sie sich doch", deutet mir die Ärztin. Auf ihn. Den Designklassiker. Deja vue. Metallfüße, blaues, leicht in die Jahre gekommenes Kunstleder.
Schmunzle bei mir: Neee, kann gar nicht nicht sein.
Setze mich.
'FFFFFFFFFFZSSSSSSssssssssss!!!'
Es lacht mich herzhaft unter der Maske.
Sie versteht mich nicht.
Macht nichts.
*Ich danke ihnen trotzdem, Frau Doktor. Sie haben mir den Tag versüßt.*
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