016_2020. Anfahren. Von Null auf Normal. Tag 31
- GM
- 17. Sept. 2020
- 6 Min. Lesezeit
Tag 31, Tag dreiundzwanzig zuhause, Sonntag
Blut in den Adern Draußen ist es dunkel. Ich sitze auf meiner Couch. Chillout läuft wieder. Ich fummle die letzten Zwiebelwürfel mit der Kuchengabel zusammen. Ja. Mit der Kuchengabel. Ja was denn?! Jeder hat so seinen Tick. Jede Arbeit, jedes Krankenhaus, jede Praxis. Warum also nicht ich auch.
Mein Tick heißt „Hast du eine Kuchengabel für mich? Ich mag keine große Gabel.“ Ja, ich esse seit Jahren immer nur mit einer Kuchengabel. Warum? Ja Gott, warum tragen andere rote Schuhe oder mögen keine Suppe. Weil halt. Eigentlich … Ich schaue auf die minimalistisch aufgehäufte Gabel, das Stück rote Beete, das sich langsam aber sicher über die schmale Kante neigt, um dem Ruf der Schwerkraft zu folgen. Batsch! Oh Mann, und ich habe meine türkisesten, petroligsten Couchklamotten an. Meine liebsten Stücke. Kurz inspiziere ich die Kleidung nach den winzigen, roten Flecken, die ganz laut nach 'Achtsam bleiben' schreien. Aber, Glück gehabt. Alles auf dem Teller gelandet und geblieben.
Ich sitze hier, sehe auf den gelb orangenen Strauß vor mir der sich immer noch größte Mühe gibt, meine Seele zu streicheln. Denke darüber nach, welch Quell an Phantasie und Witz mich gezogen haben zu schreiben. Irgendwo auf dem Weg durch den Zoster sind sie mir abhanden gekommen scheint mir. Sitze da. Die Finger ruhen wieder einmal auf den Tasten. Wer, denke ich, will denn das hier noch lesen. Und genau das ist mein Fehler. Ich bin wieder im Jemand dort draußen, im Scheinen, nicht bei mir. Im Sein. Als ich anfing zu schreiben, hatte ich niemanden im Sinn. Es war einfach. Ich nahm auf, hielt nicht. Ließ fließen.
Ich fühle mich wie …
Die Musik verstummt kurz. Dann habe ich eine Nachricht bekommen. Der Tippitoppimann bedankt sich für die Bilder von heute.
Warum gerade so leicht trübsinnig, Gudrun? Hatte ich nicht einen schönen Tag? In der Grube? War es nicht ein Augenschmaus, ihn wieder fahren zu sehen?
Aber, es ist schon wahr. Die Texte werden immer kürzer.
Die Welt dreht sich schneller.
Die Feinheiten gehen verloren.
Passiert hier draußen in der Welt der Erwachsenen wirklich so wenig schönes, feines, das mich füllen kann? Ich bin irgendwo auf dem Weg rausgeflogen in den letzten Tagen. Ich bin nicht mehr dort, wo ich gestartet bin vor wenigen Wochen. Aber, auch mein Untermieter auf Zeit, auch er hat mich ja irgendwo raus geworfen. Damals. Wenn du aufwachst und nicht mehr dort bist wo du vorher warst, dann muss dich ja jemand, etwas rausgeworfen haben. Irgendwo.
Bin ich jetzt, heute hier also einfach nur zurück-geworfen?
Sehe mich um. Sehe Autos, Teer, Häuser, Geschäfte, Menschen, die erledigen. Menschen die arbeiten. Menschen die mich nicht berühren. Menschen eben. Geräusche. Alles ist ohne Nachhall. *Die Welt der Erwachsenen*, erklärt mir mein Beobachter. Er sitzt vor mir auf dem Laptop, baumelt mit den Füßen und liest die stummen Fragen mit. Ich sehe ihn an. Er blickt auf, weil die Buchstaben nicht mehr fliegen. *Du auch hier?* frage ich ihn. *Haben sie dich also auch wieder zurück-geworfen. Schön, dass du noch da bist.* Ich bin ruhiger. Er ist noch bei mir. Mein Beobachter. Das ist weniger allein hier. In der Welt der Erwachsenen.
Die Zeit hat mich eingeholt. Ich muss Acht geben auf mich. Vorsicht! Auf das Paradies kindlicher Phantasie, des Witzes, der Versöhnlichkeit. Auf die kleine Flamme der Geborgenheit, des Urvertrauens. Wenn ich das alles wieder wegsperre hinter Mauern um Mauern, dann werde ich spätestens morgen zurück sein als die funktionierende Hülle, die ihre Zeit weg lebt.
*Wie kann ich das Meisterstück schaffen?* frage ich meine Intuition. Wende dabei meinen Kopf zum Sideboard. Mein Blick crashed mir den riesigen, weißen Reißern, der demolierten Kauleiste, den Gulpschaugen. Scratch. Das Eichhörnchen aus Ice Age. Klammert sich an seine Nuss und schaut dermaßen blöde an meine Decke, als käme von dort gleich der Hammer Gottes. Ich muss unweigerlich grinsen. Da sitze ich. Er mein Ebenbild. Für den Moment: Kein Plan, aber bloß nicht loslassen, was man schon kennt und hat.
Vielleicht, denke ich, war die ganze Posse mit der erneuten Adoption eines bekloppten Stofftieres in meine 'erwachsene' Welt nichts anderes als ein Probestück meiner Achtsamkeit und ich hätte ihn letzten Sonntag auf dem Briefkasten sitzen lassen sollen. Mit seinem Hitchikerzettel: „Ich habe mein Rudel verloren und suche jemand, der mich aufnimmt“. Mimimi. Hast’de vielleicht den Wink des Schicksals überhört und dir den Stoffdämon zurück geholt in deine heiligen Hallen?
Ich könnte es natürlich auch anders sehen. Und diesen Ansatz finde ich für mich deutlich sympathischer. Check. Aufgenommen. Verinnerlicht. Ich habe eben nicht nur eine Meise, die ich fliegen lassen kann wie ich will. Der ich gerne zu sehe bei ihren Albereien, die ich lieb gewonnen habe. Ich bin stolz auf meine Meise. Jeder darf sie sehen, der sie zu schätzen weiß.
Vielleicht sollte ich dieses selten blöd schauende Urwesen dort drüben schlicht auch lieb haben. Den kleinen, ängstlichen Festhalter. Ich habe ihn genommen, und da drüben hingesetzt. Ich werde ihn immer wieder anlächeln und ihm beruhigend zunicken, wenn er sich versucht zurück in mein Herz zu schleichen. Er darf auch seine Nuss behalten.
Aber, dort drüben.
Trotzdem fühle sich mein Körper gerade an, als stünde mein Blut still. Ich bin am Leben. Ich atme. Flach. Die Finger liegen auf der Tastatur. Eigentlich ist doch alles in Ordnung. Warum fließe ich nicht?
Ich atme ein, ich atme aus. Ich atme durch. Sehe auf die Buchstaben vor mir. Will sie nicht mit den Augen verfolgen. Von links nach rechts. Keine erneuten Worte, Sätze, Inhalte abrufen. Sie würden mich wieder in den Stillstand ziehen.
Ich atme durch.
Muss gähnen.
Schnaufe aus. Losgelassen.
Gut.
Was für ein wunderbarer Nachmittag. Der Tippitoppimann ist für mich gefahren. Heute. Was sagst du Tippitoppimann? Ich höre dich so schlecht. DU BIST heute für mich gefahren. Punkt! Ach, gefahren, …. du hast für mich getanzt mit Schlick, Geröll und der Unmöglichkeit. Nichts ist Gewalt an dem, was du dort in die Hänge zauberst. Fokus. Kraftstöße. Punktuell. Überlegt. Ruhig. Technisch. Findig. Gekonnt. Ich liebe es, dir zuzusehen. Beißer. Kein Bullbeißer. Du hast heute mit dem bockschweren Kieslehmschlammhügel gespielt. Zug für Zug. Hat er einmal einen Zug gewonnen, so hast du nicht gewütet. Du hast dich zurück genommen, warst bei dir, standest da, an seinem Fuß. Hast ihn gelesen. Neu angesetzt. Hast deine Maschine für dich deine Schachzüge umsetzen lassen. Eine filigrane Verbindung. Gefühl nicht nur im Arsch, in den Fußspitzen, den Fingerspitzen, den Ohren. Du hast nicht nur die Linie vor dir sondern auch die Maschine unter dir gelesen. Immer fünf Schritte im Kopf voraus. Jederzeit in der Lage mindestens drei neue Joker zu ziehen, wenn der Hang dir die lange Nase zeigen wollte. Es ist einfach ein Genuss.
Ich habe jetzt noch ein breites Lächeln im Gesicht, wenn ich daran denke. Natürlich wäre es schöner ich könnte selbst….
… Ich halte einen Moment inne. Die Finger ruhen auf den Tasten.
..
Ich kann vielleicht nie mehr. Nie mehr so. Aber ich bin unendlich dankbar, dass ich erleben, dass ich spüren durfte, wie dieser filigrane – dieser vermeidlich brachiale, Krach machende, stinkende, alles zerstörende, harte Sport lebt. Ich habe dieses Feuer in mir und nichts und niemand wird es mir je nehmen können. Das sind die wahren Schätze. Ich kann vielleicht nicht mehr. Aber ich habe. Ich habe soviel davon, wie ich durfte. Und … es ist noch lange nicht aller Tage Abend.
Ich lasse meine Träume nicht sterben. Ich schreibe sie neu.
Keiner, der dieses Gefühl nicht erlebt, nie gelebt hat, wird jemals verstehen, wovon ich spreche.
Warum ich gerade durchatme und glücklich bin? Ich glaube, ich will nicht antworten. Ich würde mein Feuer nur zerschreiben.
Wer dieses Blut in seinen Adern aufgenommen hat, der lebt nicht mehr in einer Welt, um sich den Erwachsenen dort draußen zu erklären.
Nein, diesen Zauber des heutigen Tages, den werde ich in mir bewahren.
... Die Finger ruhen auf den Tasten.
..
Ich habe Pippi in den Augen. Grinse von einem Ohr bis zum dahin wo der Zosterabkömmling mich lässt. Ich muss schlucken. Blinzeln. Der Text vor mir schwimmt. Eine dicke Träne, eine Perle vollständigen Glücks läuft mir die Wange hinunter. Ich fange sie mit meiner Zunge auf. Sie verteilt sich auf meinen Lippen, in meinem Mund. Salz.
Lebendig sein, nicht nur am Leben.
Mein Leben.
Doch, es gibt noch die Momente. Ich bin wieder da. Blut fließt durch meine Adern.
Danke, Mann. Tippitoppi? Stimmt, Tippitoppi!
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